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Vor genau hundert Jahren setzte die Moderne auf Glamour und kühne Eleganz. Seither erfreuen sich Art-­déco-Bauten, Hotels und Möbel ungebrochener Popularität. Städte wie Paris, Reims und Nancy laden nun zum Jubiläum ein – während das neu eröffnete Waldorf Astoria“ Hotel die Art-déco-Perle New York aufpoliert.

Er war der Hingucker des Abends. Oder präziser: Sein extravaganter, absolut unübersehbarer Hut war der wahre Hingucker und fand die Beachtung, die er durchaus verdiente. Als William Van Alen, der Architekt des ikonischen Chrysler Buildings, mit einem Chrysler-Building-Hut am Kopf zum Society of Beaux-Arts Ball“ antanzte, war die Show für alle anderen Kostüme gelaufen. Bizarr war allerdings auch der Zeitpunkt. Denn nicht nur die New Yorker Gesellschaft der Schönen Künste wirbelte es damals dahin, sondern ganz Amerika. Und zwar im Stile einer wilden Achterbahnfahrt. Eben noch Bauboom und die treibenden Rhythmen des Jazz Age, dann der rabenschwarze Freitag und Katzenjammer ohne Ende. Irgendwie gehört auch das zum Nimbus des zwei Jahre nach dem New Yorker Börsencrash eröffneten grandiosen Chrysler Buildings – und zur extravaganten Zeit, für die es steht. Es ist ein architektonischer Lichtblick mit problematischem Timing. Bis heute gilt das Haus mit den Zierelementen aus rostfreiem Stahl, die an Pariser Gargoyles – steinerne Wasserspeier – erinnern, und dessen Flügelhelm den Chrysler-Kühlerfiguren von 1926 nachempfunden ist, als bekanntester Art-déco-Wolkenkratzer der Welt.

Mitch hodiono HCI Vsiqcw90 unsplash
Mitch Hodiono ©
Das Chrysler Building in New York City

Schillerndes Comeback

Seit längerem schon feiert der unverkennbare Stil, der vor exakt hundert Jahren aus der Taufe gehoben wurde, ein schillerndes Comeback: Art déco, wohin man blickt. Er inspiriert zeitgenössische Designer von Möbeln und Accessoires, lädt im Kontext der Innenarchitektur zum glamourösen Déjà-vu ein, setzt Akzente hinsichtlich Schmuck und bringt Vintage und Mobilität zusammen – Stichwort Luxuszüge. Die Städte, die mit Art-déco-Juwelen glänzen, haben anderen Reisezielen etwas voraus. Das gilt für Paris und Brüssel, wo mit der Herz-Jesu-Kathedrale am Koekelberg das größte Art-déco-Gebäude weltweit steht, und für Shanghais ehemalige Allianz aus Glamour und latenter Verruchtheit, die Art déco mitunter umweht. Und natürlich für die USA: Wer Miamis Art Deco Historic District“ in- und auswendig kennt, entdeckt mit dem weit weniger bekannten mittelamerikanischen Tulsa eine Art-déco-Schöne im Dornröschenschlaf. Da passt auch der aktuelle Relaunch einer New Yorker Art-déco-Hotelikone, nämlich des Waldorf Astoria“, perfekt ins Bild. Soeben feiert das Haus an der Park Avenue, ebenfalls Jahrgang 1931, die abgeschlossene Komplettrenovierung und nahtlose Fusion von denkmalgeschütztem Bau-Erbe und zeitgenössischem Lifestyle.

Vor allem aber beeindruckt die Vielfalt der Nuancen, die sich auch den Experten von SOM Architects erst im Laufe einer mehrjährigen Recherche nur allmählich erschlossen, etwa im Zuge der Vertiefung in die originalen Architekturzeichnungen, die im Archiv der floridianischen Wolf­sonian Collection gelandet waren. Es ist ein wenig wie bei einer Zwiebel“, weiß nun Ken Lewis, Projektpartner von SOM. Du schälst, und immer weitere Schichten tauchen auf.“

Waldorf Astoria New York Park Avenue Lobby Credit Hilton
Hilton ©
Die opulente Lobby im Waldorf Astoria New York

Mehr zur New Yorker Wiederöffnung des Jahres in unserem Opening of the week: Waldorf Astoria New York

Dekorierte Diven

Anders als beim Schälen einer Zwiebel, die zuletzt keinen Kern beschert, war es beim Waldorf Astoria. Der Kern lautet: Art déco. Woraus sich zahlreiche weitere Querverweise ergeben, sprich: Alles ist mit allem verbunden. Wer Art déco sagt, hat in der Regel auch von Bauhaus gehört, kennt erst recht die Schnörkel des floralen Jugendstils und die eckige Strenge des später daraus abgeleiteten konstruktiven Jugendstils. Ist mit Menschen wie Le Corbusier und Charlotte Perriand vertraut, mit der Schachbrett-Extravaganz eines Kastls“ von Koloman Moser. Zwei Strömungen aus derselben Quelle – und doch so unterschiedlich wie eine glamouröse Diva und die No-nonsense-Treuhänderin aus der Vorstandsetage im gleichen Haus. Wer dabei die Diva ist, versteht sich von selbst: Madame Art déco. Auch sie hatte die Moderne verinnerlicht – das regelmäßige Brummen und Kreisen des Maschinenzeitalters, das im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert alles zu verändern begann, so wie das heute Digitalisierung und KI tun. Der Rhythmus der Maschinen veränderte nicht nur den Arbeitsalltag, in dem das Schnaufen der Dampfmaschinen jenes der Gäule überlagert hatte; er förderte auch eine neue Ästhetik zutage: geradlinig, strukturiert, geordnet. Selbst dann noch, wenn es sich um stilisierte Blütenblätter und Damenmode handelte. Die Handschrift der Maschinen – gleichermaßen unverkenn- wie unumkehrbar — prägte stilistische Vettern der beginnenden Moderne: den älteren Wiener Jugendstil ebenso wie die später verordnete, nüchterne deutsche Bauhaus-Strenge.

Der Ausflug an die Seine – unternehmen wir ihn im Zeitreisegefährt – bescherte 1925, also im selben Jahr, in dem Marcel Breuer in Dessau legendäre Stahlrohrmöbel erfand, eine leicht verschobene Optik. Da fand gerade die Exposition internationale des arts décoratifs et industriels modernes“ statt, veranstaltet von der Société des Artistes Décorateurs unter Beteiligung der vier größten Kaufhäuser der Stadt. Immerhin sollten diese eine möglichst große Bandbreite an Produkten ­abdecken und die Welt von morgen abbilden. Doch in Paris, einst Epizentrum barocker, repräsentativer Moden, durfte Maschinenästhetik glänzen: Spiegel im Stile von Pfauenfächern, Intarsien aus Tropenhölzern, Schminkschatullen mit Bezug aus Rochenleder. Streicht man mit der Fingerkuppe über die kleinen glatten Wölbungen, dann erinnern sie noch heute an Glasperlen. Scharfe Kontraste und keine Scheu vor wertvollen, teuren Materialien, der opulente Einsatz von Gold, Bronze und geätztem Glas verband Handwerk und Industrie, während Modepostkarten mit Damen mit streng-koketten Pagenschnittfrisuren von Beginn an bezeugten, wohin die Reise ging. Art déco, die vom Namen der erwähnten Ausstellung abgeleitete Stilrichtung der Roaring Twenties, feierte, ergänzend zum Glaubensbekenntnis der Moderne, Luxus und Glamour.

Ebenso wichtig: eine optimistische Sicht auf die technischen Segnungen der nahen Zukunft, der man mit Flugzeugen, Autos und Radiogeräten 1925 entgegeneilte. Das kam auch auf der anderen Seite des Atlantiks gut an, wo man die Dinge seit jeher eine Nummer größer anlegte. Und immer höher baute. Darunter eine Skyline, aus der die oben beschriebenen Hochhäuser bis heute hervorstechen. Dass die Betonung von Luxus zwangsläufig Hotels, Clubs, Restaurants und Pools in den Mittelpunkt rückte – genuine Society-Weidegründe – versteht sich da von selbst.

Kennen Sie Nancy?

Im Jubiläumsjahr der Gründung erinnert man sich durchaus leidenschaftlich an das besondere Erbe, das Art déco dem Globus beschert hat. Das gilt im Besonderen für den Entstehungsort Frankreich. So lädt das Pariser Musée des Arts décoratifs“ vom 22. Oktober 2025 bis 26. April 2026 zur Ausstellung 1925 – 2025. Hundert Jahre Art déco“ – eine immersive Zeitreise in die 1920er Jahre. Neben den Ursprüngen der modernen Ära werden hier auch zeitgenössische Neuinterpretationen gezeigt. Selbstverständlich lohnt auch ein Blick über Paris hinaus: Reims, wo die Zerstörungen durch den Ersten Weltkrieg viel Platz für Art-déco-Bauten schufen, öffnet im Rahmen geführter Touren auch die Pforten zu privaten Art-déco-Villen mit extravaganten Ornamenten, Tapeten mit geometrischen Mustern – und Bordeauxrot, Englischgrün oder Nachtblau, wohin man blickt.

Doch auch der Besuch von Reimser Art-déco-Kaufhäusern wie den Galeries Lafayette“ oder den Galeries Rémoises“ beschert einzigartige Eindrücke. In noch weit stärkerem Maße präsentiert sich indessen Nancy als Art-déco-Schatztruhe, die nun im Rahmen von Architektur-Walks, Ausstellungen und Konzerten aus diesem besonderen Blickwinkel präsentiert wird. Eine weitere Besonderheit des hundert Jahre alten Stils tritt hier wie in einem urbanen Labor glasklar zutage – und weist Art déco als verbindende Brücke zwischen dem französischen Art Nouveau und der formalen Strenge moderner Architektur aus. Allein in Nancy und der umliegenden Lorraine beeindrucken insgesamt 1.300 Art-­déco-Gebäude auch mit ihrer enormen funktionalen Bandbreite – sie reicht vom Aquarium bis zum Weingut.


Napier: Art-déco-Wiedergeburt

Am 3. Februar 1931 um 10:47 Uhr wurde die neuseeländische Stadt Napier von einem Erdbeben der Stärke 7,8 erschüttert. In nur zweieinhalb Minuten wurden fast alle Gebäude im Zentrum zerstört, viele durch nachfolgende Brände endgültig vernichtet. 256 Menschen kamen ums Leben, Tausende wurden verletzt. Es war eine der schwersten Katastrophen, die das Land je erlebt hat – und zugleich der Beginn einer der ungewöhnlichsten Wiedergeburtsgeschichten der Architektur. Innerhalb von nur zwei Jahren entstand ein neues Stadtzentrum, geplant, organisiert und fast vollständig einheitlich gebaut. Statt historistischer Ziegelarchitektur wurde nun der klare, moderne Stil der Zeit angewendet: Art déco. Stahlbeton ersetzte brüchiges Mauerwerk, Ornamente wurden geometrisch, die Fassaden glatt und stromlinienförmig. Farben wie Ocker, Grün und Rosa bestimmten das Bild. Es war eine bewusste Abkehr von der Vergangenheit und ein architektonisches Versprechen an die Zukunft. Besonders bemerkenswert: Einige Architekten integrierten auch Māori-Motive in ihre Entwürfe – eine der frühesten Formen kultureller Synthese im neuseeländischen Städtebau. Auch das legendäre Tin Town“, ein provisorisches Einkaufszentrum aus Wellblech, wurde zur Ikone dieser Aufbaujahre. Heute ist Napier ein weltweit einzigartiges Ensemble mit über 140 erhaltenen Art-Déco-Bauten. Jedes Jahr im Februar wird das Erbe mit dem Art Deco Festival“ gefeiert, bei dem sich die ganze Stadt in ein lebendiges Abbild der 1930er verwandelt – inklusive Old-timern, Jazz, Picknicks und Kostümen.


Art-déco-Pionier: Lobmeyr

1925 wurde in Paris mit der Exposition internationale des arts décoratifs et industriels modernes“ ein Stil geboren: Art déco. Österreich war mit einem visionären Pavillon vertreten, gestaltet von Josef Hoffmann, Oskar Strnad, Josef Frank und Peter Behrens. Als Mitglied des Exekutivkomitees prägte Stefan Rath, damaliger Inhaber der Wiener Glasmanufaktur Lobmeyr, das Gesamtbild entscheidend mit. Die Präsentation wurde ein Triumph – Lobmeyr erhielt den Grand Prix für Glas.

Gezeigt wurden avantgardistische Entwürfe, die den Materialzauber“ feierten, wie die Wiener Kritikerin Bertha Zuckerkandl schrieb. Zentrales Element war das hauchdünn geblasene Musselinglas – ein Meisterstück österreichischer Glaskunst. Bereits 1854 mit dem Trinkservice No. 4 von Ludwig Lobmeyr begründet, wurde es 1925 durch Oswald Haerdtl zur Ikone erhoben. Seine archetypischen Formen und seine radikale Modernität prägten den Stil der Zeit – und die Handschrift des Hauses bis weit in die 1950er-Jahre.

Heute führen Andreas, Leonid und Johannes Rath die sechste Generation des Familienunternehmens – mit dem Anspruch, Tradition und Innovation in jedem Entwurf neu zu vereinen. Ihre Glasobjekte entstehen weiterhin in Handarbeit, oft in Zusammenarbeit mit internationalen Designern. Zwischen zeitloser Eleganz und moderner Gestaltung bleibt Lobmeyr ein leuchtendes Beispiel dafür, wie österreichisches Kunsthandwerk weltweite Stilgeschichte schreibt. Zuletzt sorgte die Zusammenarbeit mit Formafantasma und Studio Brynjar & Veronika für internationales Aufsehen.


Louis Vuitton Art Deco

Ein weiterer Höhepunkt im Jubiläumsjahr ist die Ausstellung Louis Vuitton Art Deco“, die ab dem 26. September 2025 in Paris zu sehen ist. Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Internationalen Ausstellung für moderne dekorative und industrielle Kunst von 1925 inszeniert das Haus in den Räumen von LV Dream am Quai de la Mégisserie eine immersive Schau mit über 300 historischen Objekten, darunter legendäre Reisekoffer, Schmuckstücke und Archivmaterialien. Acht thematisch gestaltete Räume spannen den Bogen von den Ursprüngen in Asnières über das gefeierte Debüt auf der Pariser Weltausstellung bis hin zu den internationalen Strömungen von Art déco in Architektur, Mode und Reisen. Damit würdigt Louis Vuitton nicht nur die kreative Vision von Gaston-Louis Vuitton, sondern auch die nachhaltige Strahlkraft einer Epoche, die modernes Design bis heute prägt. Der Eintritt ist frei, geöffnet ist von Dienstag bis Sonntag, jeweils von 11 bis 20 Uhr.


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