Wie man die Faszination Ägypten als Kopfkino am besten erlebt.
Lord George Edward Stanhope Molyneux Herbert, der 5. Earl of Carnarvon, war nicht bloß Dandy und Liebhaber schneller Pferde und rassiger Autos. Vor allem war er ein Mann mit vielfältigen Möglichkeiten. Sein englischer Wagen hatte das schlichte Kennzeichen 3 – er besaß ihn bereits zu einer Zeit, da neumodische Motorkutschen im Vereinigten Königreich noch nicht mal zugelassen waren. So fanden sich französische Landstraßen für die automobile Passion und im deutschen Taunusgebirge leider ein Schlagloch, das auf verwickelte Weise zu Tutanchamuns altägyptischem Grab führen würde. Doch zunächst sorgte es für einen katastrophalen Unfall, der dieser schillernden Biografie eine entscheidende Wende verlieh – und den angeschlagenen Lord aus Gründen der Rekonvaleszenz in trockene Klimazonen expedierte. Kurz: Lord Carnarvon langweilte sich plötzlich im Schatten der großen Pyramiden und entdeckte fast zwangsläufig ein neues Hobby: die Archäologie. Das nötige Kleingeld für eine 1914 frei gewordene Grabungslizenz im Tal der Könige fiel für Männer wie ihn unter die Kategorie „Peanuts“.
Das Abenteuer finden
Der Oscar für beste Regiearbeit in Sachen abenteuerliche archäologische Funde des 20. Jahrhunderts geht damit ganz klar: an den Zufall! Doch ein deutsches Schlagloch allein und ein fadisierter Jetsetter hätten in Summe nicht ausgereicht. Dazu brauchte es einen kongenialen Partner, auf den Lord Carnarvon einige Zeit zuvor getroffen war und der gegensätzlicher kaum ausfallen hätte können. Howard Carter, Landsmann aus der Grafschaft Norfolk, war nur auf eine Art privilegiert: durch sein Talent zum Zeichnen, das der kränkliche Junge, der noch nicht mal zur Schule geschickt werden konnte, von seinem Vater geerbt hat. Das Zeichnen hatte ihn zu dieser Zeit bereits über den Umweg eines ersten Jobs im British Museum nach Ägypten gebracht, wo er für wechselnde Arbeitgeber unermüdlich Reliefs und geheimnisvolle Malereien kopierte, sorgfältiger als jeder andere vor ihm, leider auch im Schneckentempo, wie es hinter vorgehaltener Hand häufig hieß.
Doch als Lord Carnarvon den Autodidakten Carter kennenlernte, war der längst ein alter Hase. Hatte in Amarna, der einstigen Hauptstadt des „Ketzerkönigs“ Echnaton, gearbeitet, unter Sir Flinders Petrie, dem Begründer der systematischen Feldarchäologie in Ägypten, den von Dynastien getränkten Boden durch die Forscherbrille betrachten gelernt. Schließlich die Stelle des Oberinspektors der Altertümerverwaltung in Oberägypten und Nubien einkassiert. Eigentlich war alles perfekt auf Schiene: Carter grub in Theben-West und Assuan, sorgte in Gräbern als Erster für elektrisches Licht, lieferte sich mit dem berüchtigten „König der Grabräuber“ Abdel Rasul ein Katz-und-Maus-Spiel. Doch den eigentlichen Krimi schrieb Carter gemeinsam mit Carnarvon 1922, und die Bilder, die damals um die Welt gingen, faszinieren noch jetzt.
Glück im Grabungsfeld
Rückblende um fast 100 Jahre. Und leider muss man sagen: Vielversprechend wirkte das Tal der Könige anno 1922 kaum noch. Aufgetürmte Schuttberge, wohin man blickt. Kaum ein Sandkorn, das im Lauf der Jahrtausende nicht bereits mehrfach umgedreht, gesiebt, durchwühlt worden wäre. Bloß Carter treibt eine unbestimmte Ahnung an – und er befindet sich gleichzeitig in einem Wettlauf gegen die Zeit. Er weiß um diverse unbedeutende Funde, um Tonsiegel, einen Fayencebecher mit dem Namen des Pharaos Tutanchamun und um dessen mutmaßliches Schachtgrab – viel zu schlicht für einen Gottkönig, wie er findet. Die antiken Arbeiterhütten, auf die er gestoßen ist, machen ihn bereits seit Jahren stutzig. Doch noch einen weiteren, nunmehr fünften Winter sein Glück versuchen?
“Bis sich die Fachwelt im Feldlabor über Tutanchamuns Mumie bückt, verstreichen ganze sieben Jahre.”
Das dreieckige Grabungsfeld, das Carter seit 1917 am Fuße des Grabes von Ramses IV. mit finanzieller Unterstützung Carnarvons bearbeitet, ist in Summe eine Enttäuschung. Bis das Duo unter dem Fundament einer dieser Arbeiterhütten auf eine Steinstufe trifft. Dann taucht eine zweite im Geröll auf, eine weitere, und je tiefer und zügiger gegraben wird, desto verheißungsvoller nimmt sich die uralte Treppenflucht aus. Schließlich stehen Carter und Carnarvon vor einer versiegelten, mit Mörtel bestrichenen Tür. Es ist der Beginn einer sagenhaften Entdeckung, die über mehrere Jahre hindurch für immer neue Höhepunkte sorgen wird. Bis die letzten Kisten Kairo erreichen, werden zehn Jahre vergangen sein. Und bis sich die Fachwelt im Feldlabor über Tutanchamuns Mumie bückt, verstreichen ganze sieben Jahre. Denn Carter geht langsam und bedächtig vor, genau so, wie er es einst als junger Zeichner getan hat.
Er unterdrückt zunächst sogar den Impuls, jene dunkel verfärbte Wandstelle im Vorraum zu öffnen, die er ganz richtig für den zugemauerten Durchgang zur eigentlichen Grabkammer hält. Zuvor wollen die Artefakte der Vorkammer dokumentiert werden: Tutanchamuns Thronsessel etwa, die goldenen Bahren, Alabasterköpfe und natürlich die beiden schwarzen Statuen mit den goldenen heiligen Schlangen. Carter, der Autodidakt, will keinen Fehler machen. Er kümmert sich um das beste wissenschaftliche Gerät, kontaktiert Spezialisten aus aller Welt und lässt jenen Fotografen des Manhattaner Metropolitan Museum of Art einfliegen, dessen Bilder ganz wesentlich zum Archäologieabenteuer beitragen – der Entdeckung von Tutanchamuns Grab, dem reichsten altägyptischen Fund aller Zeiten. Es sind Bilder, die selbst Geschichte schreiben: Carter, wie er sich durch die Flügeltür des ersten Schreins in einen zweiten Schrein drängt, dann weiter in einen dritten und vierten. Wie Arbeiter Särge aus monolithischem Quarzit öffnen, schließlich einen letzten aus massivem Gold. Die goldene, mit Lapislazuli-Intarsien gearbeitete Totenmaske des jungen Königs, die darin auftaucht – was für ein Moment!
Sandale und Skandale
Es ist der Stoff, aus dem sich Mumienbandagen und herrlich schaurige Horror-Storys weben lassen – und noch vieles andere mehr. Denn die öligen Sandalenfilme und die großohrigen Sphinxkatzen, Agatha Christies herabstürzende Säulen und Mörder können dem Drama und Originalschauplatz Ägypten kaum das Wasser reichen. An keinem anderen Reiseziel vermischen sich Fiktion und historisches Ursubstrat, Top Secret und Tod zuverlässiger als unter dem Arbeitstitel Ägypten. Ein 3.300 Jahre altes Echo aus einem lange Zeit selbst von Grabräubern übersehenen Königsgrab. Eine goldene Totenmaske, die nun als zuverlässiger Coverstar in Sachen Pharaonenglanz dient. Hagere Typen in weißen Leinenanzügen, mit Nickelbrillen und pomadisierten Haaren. Die Schatten der Damen in weiten Reifröcken auf struppigen Eseln, neben denen Fellachen zu sehen sind, von denen man nicht genau wissen kann, auf welcher Seite sie stehen – und wie sie es mit Abdel Rasul halten, dem Schurken und Oberhehler aus Oberägypten.
Diese besondere Prise Indiana Jones begleitet die Annäherung an Ägypten seit jeher. Sie schwingt auch dann noch mit, wenn All-inclusive-Ziele wie Sharm el Sheik und Hurghada an die touristische Landkarte des geheimnisvollen Orients gepinnt sind. Und auch dann, wenn Fernreisen aktuell selbst in weite Ferne gerückt sind. Entzaubern lässt sich das exklusive Drehbuch „Altes Ägypten“ dadurch freilich nicht. Das ewige Lächeln der Sphinx – es ist nie wirklich abgerissen. Verharrt lieber in ewiger Schwebe, wie eine in Stein gemeißelte Mona Lisa. Schafft Raum für Phantasmagorien – so wie die umliegende Wüste selbst. Ägypten ist voll von solchen halb, dreiviertel oder eben ganz und gar ungelösten Rätseln. Ganz großes Kopfkino für verkannte Abenteurer ist es allemal.
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