Da sind Cineasten ganz aus dem Häuschen: In Los Angeles wurde das neue Oscar Museum eröffnet. So wie das bestehende Hollywood Museum zelebriert es einen besonderen Film-Star – nämlich das Kino selbst.
Clay Campbell war Autogrammjäger mit besonderem Fokus. Das hat weniger mit den Personen zu tun, die der Maskenbildner einst um Unterschriften gebeten hat. Lauren Bacall und die Dietrich zählten selbstverständlich dazu, ebenso Barbra Streisand, Jane Fonda oder Marilyn M. Wer mag, kann die Handschrift dieser Filmgöttinnen hinter einer Glasscheibe des Academy Museums auf nervöse oder selbstbewusst gesetzte Unterlängen prüfen. Aber darum geht es nur nebenbei. Denn Mr. Campbell sammelte vor allem Münder von Diven, ließ sich Küsschen auf Löschpapier drücken. Mal leuchteten sie freundlicher, mal waren die Mundwinkel weiter herabgezogen. Abdrücke zugepresster Münder finden sich neben leicht geöffneten. In Summe ergibt das eine einzigartige Sammlung im Rahmen einer noch viel bemerkenswerteren Kraftanstrengung – die viele kaum noch erwarten konnten. Denn mit der Eröffnung des neuen Branchenmuseums Hollywoods verhielt es sich so wie mit vielen anderen Großprojekten auch. Sie wurde verschoben und noch einmal verschoben und dann leider vertagt bis … Kurz: Fast hatte man das Gefühl, die US-Filmorganisation, die den weltberühmten Oscar vergibt und die den Stararchitekten Renzo Piano mit der Umsetzung beauftragt hat, würde selbst Anleihen bei jenen Hollywood-Blockbustern nehmen, die sich in Form von Aufgüssen ewig in die Länge ziehen.
Das geht ins Auge
Seit Ende September ist das anders. Denn die Traumfabrik Hollywood hat sich selbst einen alten Traum erfüllt, der erstmals 1929 formuliert und in den Sechzigern ein weiteres Mal aufgewärmt worden ist. Nach Pannen, Finanzkrise und Corona ist es endlich fertig. Auch weil Stars wie Steven Spielberg, Barbra Streisand, Tom Hanks oder George Lucas persönlich in die Tasche gegriffen und die Verdoppelung der ursprünglich angepeilten Baukosten auf 388 Millionen Dollar kompensiert haben. Egal. Jetzt ist der rote Teppich ausgerollt. Und fast möchte man sagen: „And the winner is: Los Angeles!“ Die Stadt besitzt mit dem brandneuen Academy Museum of Motion Pictures ein Branchenmuseum und eine neue Attraktion zugleich. Endlich sind Cineasten aus aller Welt eingeladen, auf knapp 30.000 Quadratmetern und sechs Stockwerken vertiefende Einblicke in die Welt des Films zu nehmen. Und zwar aus unterschiedlichsten Perspektiven. Wer mag, kann einen Blick hinter die Kulissen werfen, Requisiten, Attrappen oder Bühnenbilder bewundern. Dass am Nabel des Mainstream-Kinos das zugleich umfassendste Filmmuseum der Welt eröffnet, garantiert nicht zuletzt die riesige Sammlung der Film-Academy. Mit mehr als 13 Millionen Fotos, 250.000 Film- und Videoaufnahmen, 71.000 Drehbüchern, 67.000 Plakaten und 137.000 Kunstwerken sowie Überbleibseln von Filmsets, Storyboards, Zeitungsausschnitten, persönlichen Korrespondenzen und Nachlässen von Hollywood-Ikonen wie Alfred Hitchcock oder Katharine Hepburn handelt es sich um die größte Kollektion weltweit. So schöpft das neue Museum nun wahrlich aus dem Vollen.
Wer trug diese Perücke?
Ideal für Cineasten, die ein wenig Rätselspielchen spielen möchten, ist das Filmmuseum ohnehin. Denn viele Exponate des brandneuen Academy Museums dürften dem einen oder anderen bekannt vorkommen, haben sich in die Netzhaut eingebrannt. Moment mal, denkt man dann vielleicht, kennt man doch! Genau: Die üppig verzierte Perücke mit den metallischen Kügelchen am Ende der Fake-Zöpfchen, die beim temperamentvollen Herumwerfen des Kopfs glockengleich klingelten – war das nicht der Kopfschmuck, den die Taylor in „Cleopatra“ trug? Check! Beim schwarzen, bodenlangen Kleid, dessen ausgefranste Säume am Boden und erst recht am Ende der langen Ärmel fast an Federn erinnern, an Rabenflügel vielleicht, wird es schon schwieriger. Doch! Auch schon mal gesehen! Richtig: Es ist das lange Schwarze, das Anjelica Huston alias Morticia Addams in der Kino-Neuverfilmung der Grusel-Klamauk-Serie höchst anmutig durchs Haus der Addams Family flattern ließ. Wer sucht, entdeckt ferner die Schreibmaschine, auf der Joseph Stefano das Drehbuch für „Psycho“ schrieb, oder kann die Schuhe bewundern, die Judy Garland als Dorothy Gale im „Zauberer von Oz“ getragen hat – zwei weitere jener Requisiten, die sich in Summe wie eine kompliziert ineinander verwobene Zeitraffersequenz quer durch alle filmische Genres und Epochen vor unser aller Augen abspulen. Denn das zu Ehren der lokalen Filmindustrie konzipierte neue Oscar Museum mag in Los Angeles liegen, Ecke Fairfax Avenue, Wiltshire Boulevard, und damit an einer der wichtigsten Ost-West-Achsen der Megastadt. Aber weil Amerikas Kino aller Welt gehört, liegt es darüber hinaus in allen Köpfen zugleich. Das unterscheidet es von anderen Museen. Hollywood ist der Parkplatz vor der eigenen Haustür.
Rundum gelungenes Kugelhaus
Pritzker-Preis-Träger Renzo Piano, unter anderem Erbauer des Pariser Centre Pompidou und des Londoner Hochhauses The Shard, hat für das Prestigeprojekt selbst ein wenig in die Kristallkugel geblickt. Zumindest sieht der Bau, der unter anderem einen gigantischen Vorführsaal für 1.000 Zuseher integriert, ganz danach aus. Eine riesige runde Glaskuppel überdacht den eigenwillig kugeligen futuristischen Bau. Die Message ist klar: Vorwärts in die Zukunft. Notfalls geht das Kino auch den Umweg über die Rückblende. Nach 120 Jahren ist das einflussreichste Medium des 20. Jahrhunderts bekanntlich in der Krise. Me-too-Fiasken, konkurrierende Hochglanzformate von Netflix, Amazon und Hulu, schließlich gab die Corona-Pandemie traditionellen Lichtspielhäusern in aller Welt den Rest. Das Museum versteht sich da auch als Bewahrer einer alten Kultur. Im Rahmen von Symposien und Programmen wie etwa „Vienna in Hollywood“ – ab 10. Dezember. Dabei wird der überragende Einfluss von österreichischen Emigranten der 1920er-Jahre auf die kalifornische Traumfabrik vorgestellt.
Pinke Schminke
Die treue Fangemeinde kann in Los Angeles sogar noch eine zweite Institution bewundern. Es ist das im historischen Max Factor Building untergebrachte Hollywood Museum. Auch hier beeindruckt zunächst die Architektur. Und mehr noch die damit verbundene Geschichte – die fast aus einem Hollywood-Drehbuch stammen könnte. Das am 1660 North Highland gelegene Max Factor Building wurde 1928 komissioniert – nur wenige Tage vor der Großen Depression. Auch hier verzögerte sich die Eröffnung gehörig. Aber ab 1935 markierte der ikonische Bau, auf den die Beschreibung Hollywood Regency Art Deco ganz gut passt, ein Kapitel Kino- und Sozialgeschichte zugleich. Schließlich handelte es sich beim Namensgeber Max Factor um den legendären Make-up König Hollywoods, einen gebürtigen Polen, der zunächst zum privaten Visagisten der Zarenfamilie Nikolaus II. aufstieg und nach seiner Emigration in die USA Filmstars perfekt in Szene zu setzen verstand. Aber das ist erst die halbe Story. Denn Max Factor wurde zugleich zur ersten Adresse für alle Amerikanerinnen, die professionelle Nachhilfe in Sachen Kosmetik benötigten. Das kam einer feministischen Vor-Revolte gleich: Erstmals wurde das Thema Make-up vom Privaten ausgelagert und Max Factor ein Pionier der Kosmetikstudios. All das kann man nun im Rahmen historischer Fotos im Hollywood Museum sehen, die den Meister bei der Arbeit zeigen. Kosmetik wurde freilich auch bei der Restaurierung des Gebäudes angewandt, das seit 2003 als Museum fungiert. Keine Scheu vor pinkfarbenen Wänden, Marmor, imposanten Kronleuchtern, Trompe‑l’Œil sowie einer Extradosis Blattgold und Silber – so ließe sich das zusammenfassen. Auch hier laden Requisiten wie Hannibal Lecters Gesichtsmaske und sogar das ausgestopfte Hündchen von „Verrückt nach Mary“ zum launigen Spaziergang durch die Filmgeschichte ein. Ein ganz anderes Extra sind allerdings jene original erhaltenen Make-up-Studios, in denen Max Factor entweder ausschließlich Blondinen und in einem anderen Raum Rothaarige bearbeitete – oder erfand, wie Lucille Ball, die Mexikanerin und bekannteste „Kreation“ des Make-up-Künstlers. Nur eines sucht man hier zwischen Puderdöschen und Hornkämmen vergebens: die vielen roten Lippen des Clay Campbell.
Unsichtbare Sammlungen
Fort Knox von Hollywood wird das Unternehmen genannt. Tatsächlich passt das Iron Mountain Entertainment Service (IMES) auf die Schätze der Film- und Musikindustrie auf wie kein anderer. Das Kerngeschäft lautet: Bewahrung und Digitalisierung alter Aufnahmen. Für deren Wiedergabe wird nicht bloß das technische Know-how rar, sondern auch die antiquierten Abspielgeräte selbst. Das 2‑Inch-Quadruplex-Videotape-Monster, mit dem erst kürzlich eine Bee-Gees-Aufnahme aus dem endgültigen Off gerettet werden konnte, nimmt heute wohl jedes Technikmuseum mit Handkuss.
Die spannendste Stopptaste wurde zuletzt aber durch COVID-19 gedrückt. Denn das Zusammentreffen von erzwungener Drehpause und größerer Nachfrage nach Home Entertainment in Lockdown-Phasen ließ die Industrie verstärkt in Archive blicken. Das bescherte den Medien Film, Video und Musik vergessene Schätze und IMES, dem mit Datensicherung der Unterhaltungsindustrie befassten Geschäftszweig von Iron Mountain, zweistellige Umsatzsteigerungen.
Den größten Schatz hortet IMES Iron Mountain in einer aufgelassenen Kalksteinmine in Boyers, Pennsylvania: 22 unterirdische Geschoße umfasst sie. Insgesamt füllt IMES 60.000 Quadratmeter Lagerfläche. In Hollywood, New Jersey, London, Paris finden sich weitere temperatur- und luftfeuchteregulierte Lager – ein analoges Gedächtnis der Unterhaltungsindustrie.
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